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72. Tag, Samstag, 13. August – bis Lübeck


Hurra, ich darf wieder Fähre fahren. Zusammen mit ganz, ganz vielen Autos,ihren Lenkern und deren Anhang. Was für eine Abwechslung nach Wochen und Monaten in der Wildnis. Bereits nach fünf Minuten weiß ich, was ich all die Zeit nicht im Mindesten vermisst habe. Das heißt, eigentlich weiß ich es überhaupt nicht. Denn mit anderen - Reisende oder Einheimische – habe ich mich immer gerne unterhalten. Und um Reisende handelt es sich auch hier auf der Nils Holgerson ebenfalls. Ist es dann vielleicht die ungewohnte Hektik? Nein, auch nicht. Hektisch ist hier niemand. Eher schon angestrengt bemüht,möglichst sinnlos im Weg zu stehen. Dann muss es wohl das typisch deutsche Bestreben sein, im Urlaub möglichst nichts mit typisch Deutschen zu tun zu bekommen. Den anderen scheint aber auch das wenig auszumachen. Nach einer Weile an Deck, ging ich an die Bar, um einen Happen zu essen. Da wusste ich, was mich so abstieß: der Geruch. Diese Melange aus Leberwurst, Schweiß und geschälten Orangen, wie er in jedem Schulausflugsbus nach zehn Minuten Fahrt zu riechen ist. Dazu ein irres Potpourri aus einem guten Dutzend Parfums aus dem Bord Shop. Klar, dass mir da übel wird. Das passt einfach nicht zu mir und der mühsam erworbenen Note „nasse Ziegenherde“ meiner Klamotten. Konsequent verbrachte ich die Überfahrt daher auf dem Sonnendeck und zog mir Alastair Reynolds „Chasm City“ als Hörbuch rein.

Kurz vorm Anlegen in Travemünde trafen sich die ganzen Radler unten auf dem Fährdeck. Einige waren mit abenteuerlich zusammengeschusterten Klapprädern unterwegs. Keine Ahnung, wie viel Spaß das macht.

Von Travemünde nach Lübeck ging es über hervorragend ausgebaute Radwege und einen kostenlosen Shuttlebus unter der Trave. In der Stadt folgte eine etwas längere Suche nach einer Unterkunft. Das Rucksackhostel mit der Hiphop-Party vor der Tür war zum Glück ausgebucht. Letzten Endes landete ich in einem Ibishotel. Der Rest des Abends war mit dem Bummel durch die Hansestadt, dem ersten Döner seit Polen und endlich wieder einem bezahlbaren Bier (allerdings ausgerechnet Paulaner) gewidmet.


Distanz: 259 km (davon 32 km Eigenleistung)

Durchschnittsgeschwindigkeit: 15,5 km/h (Eigenleistung)


 

73. Tag, Sonntag, 14. August – bis Lauenburg/Elbe

Schön ausgeschlafen, ausgiebig gefrühstückt und erst nach elf losgekommen. Da ich noch keine ADFC-Karten von der Gegend hier habe, folgte ich einfach dem Radweg „Alte Salzstraße“ entlang des Elbe-Lübeck-Kanals. Sehr malerisch, sehr flach, sehr ruhig. Klasse. Der stille Kanal und das viele Grün erinnerte an Irland. Gute Gelegenheit, den Eindruck mit ein paar Reels von Craobh Rua zu unterstreichen. Selbst der einsetzende leichte Regen passte bestens dazu. Als dieser allerdings immer stärker wurde, ließ der Spaß ein wenig nach. Gegen 14 Uhr war ich komplett durchnässt. Zwei Stunden später obendrein von oben bis unten mit Sand zugekleistert. Als der Regen kurz vor Lauenburg nochmals stärker wurde, beschloss ich hier Schluss zu machen und die restlichen 26 km bis Lüneburg auf morgen zu verschieben. Gute Entscheidung. Zum einen kam ich in dem sehr gemütlichen Gästehaus des Hotels „Zum alten Schifferhaus“ aus dem 17. Jahrhundert unter. Zum anderen ist Lauenburg mit seinen verwinkelten Gassen, den zahlreichen alten Backstein/Fachwerkhäusern und seinem zahnarztfreundlichen Kopfsteinpflaster wirklich sehenswert.

Etwa gleichzeitig mit mir kamen etliche weitere Radler an, die auch für heute aufgaben. Schon witzig: Vermutlich habe ich heute genau so viele Radwanderer getroffen wie in den skandinavischen Wochen insgesamt. Allerdings ist Radwegenetz hier wirklich vorbildlich – sowohl vom Zustand als auch von der Ausschilderung her.

Distanz: 71 km

Durchschnittsgeschwindigkeit: 19,0 km/h 

 

74. Tag, Montag, 15. August – bis Sehnde
 

Bin heute tatsächlich mal vor neun losgekommen. Lag aber daran, dass es nur zwischen sieben und acht Frühstück gab. Das Rad ist nach dem gestrigen Regen und den Sandwegen in einem bedauernswerten Zustand. Alles quietscht und knirscht. Das Profil des Hinterreifens hat sich endgültig in einen Slick verwandelt. Die Kette ist ordentlich gedehnt und rutscht schon mal durch, wenn sie vorne und hinten auf den kleinen Ritzeln liegt. Und auch die Bremsen müssen dringend nachgestellt werden. Aber das ist schon in Ordnung. Wäre ja enttäuschend, wenn ich jeden morgen mit schweren Beinen aufstehe und Scott mich nur stoisch anlächelte: „Was hast Du bloß? Das war doch gar nichts bisher.“

Wie auch immer. Trotz des allgemeinen Verfalls ging es heute gut voran. Das Wetter zeigte sich von seiner friedlichen Seite und bescherte sogar etwas Sonnenschein. Lediglich nachmittags musste ich mit dem Poncho das alte Rein-raus-Spiel treiben. In Lüneburg (schöne Stadt, zu viele Menschen) konnte ich die benötigten Radkarten bis Höhe Bamberg besorgen. Den restlichen Weg kenne ich. Sehr süß auch die Verkäuferin: "Da haben Sie sich aber eine ordentliche Tour  vorgenommen!" Ich lächelte nur, sagte aber nichts. Hier in Niedersachsen sind dagegen alle Wege neu für mich. Und ich bin begeistert. Jede Menge guter Radwege. Selbst bei den dicken Bundesstraßen kann man sich darauf verlassen, dass ein separater Radweg nebenher läuft. Das ist nicht nur sehr angenehm zu fahren, sondern ermöglicht auch ein schnelles Vorankommen – fast auf der Luftlinie. Südlich von Lüneburg stieß ich auf die Alte Landwehr, die im Spätmittelalter die Stadt vor marodierenden Banden schützen sollte und – wichtiger noch – die Versorgung sowie den wirtschaftlichen Aufstieg der Stadt sicherten. Ab 1392 hatte Lüneburg das Stapelrecht. Jeder vorbeiziehende Kaufmann musste seine Waren für drei Tage in Lüneburg „stapeln“ und zum Verkauf anbieten. Maut fiel natürlich auch an. Die großzügig angelegte Landwehr schloss alle wichtigen Straßen ein und erschwerte ein Umfahren der Stadt erheblich. Clevere Idee, so ein Spinnennetz für fliegende Händler.

Nach Lüneburg ging es auf verschlungenen Wegen durch Wälder. Von der Lüneburger Heide sah ich selber nichts. Dafür erinnerten mich einige der aufgeweichten Sandwege unangenehm an Polen und das Baltikum. Das schwere Rad grub sich immer wieder in den weichen Untergrund, so dass ich einige Kilometer nur schiebend vorankam.

Celle durchfuhr ich navigestützt recht zügig. Die Stadt machte einen netten Eindruck, aber für eine eingehender Besichtigung herrschte mir zu viel Trubel. Außerdem wollte ich weiter bis Hildesheim. Daraus wurde dann aber doch nichts, da sich am Himmel dicke Gewitterwolken zusammenzogen. Ich trat ordentlich in die Pedalen, um wenigstens noch Sehnde trocken zu erreichen. Dabei kam es dann leider auch noch zu einem kleinen Unfall. Vor mir fuhr eine ältere Frau auf dem Radweg. Ich klingelte mehrmals, um mein Überholen anzukündigen. Sie fuhr an die rechte Seite, so dass ich annahm, sie hätte mich gehört – und zog an ihr mit reichlich Abstand vorbei. Als nächstes hörte ich ein erschrockenes „Oh“ und Sekunden später ein Scheppern. Ich hielt sofort an und rannte zu ihr zurück. Sie war sichtlich erschrocken, schimpfte aber nur über ihr schlechtes Fahrrad. Dem fehlte zum Glück so wenig wie ihr selbst. Ich half ihr auf, überprüfte das Rad und erkundigte mich mehrmals, ob auch wirklich alles in Ordnung sei. Gottseidank war sie so langsam unterwegs, dass sie mehr oder weniger aus dem Stand umgekippt war und nicht einmal eine Schramme abbekommen hatte. Trotzdem nagte an mir das schlechte Gewissen. Vielleicht wären Sturmklingeln manchmal doch ganz praktisch. Andererseits kippen die Leute dann wahrscheinlich vor statt nach dem Überholen aus dem Sattel.

Distanz: 148 km

Durchschnittsgeschwindigkeit: 18,6 km/h

 

75. Tag, Dienstag, 16. August – bis Göttingen

Bedeckter Himmel, blieb aber den ganzen Tag über trocken. Bis Hildesheim ging es wieder auf sehr guten Radwegen direkt nach Süden. Die Stadt selbst war in der Karte als sehenswert eingetragen. Angesichts verstopfter Zugangsstraßen, grauer Wohnblocks aus den 50ern und steriler Betonfluchten aus den 60ern bleibt der Grund dafür lange unsichtbar. Erst ganz im Zentrum zeigen sich dann ein paar wirklich schöne Fachwerkstraßen. Wahrscheinlich bin ich unfair (oder falsch gefahren), aber Hildesheim kam mir wie ein Bonbon in einem Misthaufen vor. Man muss schon sehr hungrig sein, um sich mit Genuss durchzubeißen.

Anschließend verliefen die Wege auf verschlungeneren Pfaden. Besonders abwechslungsreich erwies sich der Radweg zur Kunst (RZK), der in seinem südlicheren Ende mit zahlreichen Plastiken am Wegrand aufwartete. Nicht alles mein Geschmack, aber einige Stücke gefielen mir gut. Sie riefen dieses Osterinselgefühl hervor, das einen fragen lässt, welch fremdartige Kulte eine untergegangene Kultur hier wohl praktiziert hat.

Dazu gab es mehrere (nun wirklich) sehenswerte Städtchen. Bad Salzdetfurth und Bad Gandersheim sind mir besonders im Gedächtnis geblieben. Hier würde sich ein eigener Urlaub anbieten, um den Gegend besser kennenzulernen. Niedersachsen ist für mich ja weitgehend Terra Incognita und fühlt sich mehr nach Ausland an als jedes österreichische Bundesland – mal von Wien abgesehen.

Die durch die touristisch attraktive Landschaft mäandernden Wege hatte jedoch ihren Preis. Sie verlängerten die an sich recht übersichtliche Tagesleistung spürbar. Als ich gegen 19 Uhr in Göttingen eintraf, war klar, dass es mit Kassel heute nichts mehr wird.


Distanz: 128 km

Durchschnittsgeschwindigkeit: 18,6 km/h
 

76. Tag, Mitwoch, 17. August – bis Kassel

Das wäre gestern doch ein bisschen happig gewesen, hätte ich den Rest bis Kassel noch zu packen versucht. So aber war es eine feine, kleine Tour bei bestem Wetter und herrlicher Landschaft. Die Steigungen waren vorhanden, jedoch nicht in dem Ausmaß wie befürchtet. Großes Glück hatte ich mit dem Abschnitt Witzenhausen-Nieste, Auf der ADFC-Karte war er als unvermeidliche Zwischenstrecke mit viel Verkehr eingetragen. Wegen (dringend nötiger) Straßenausbesserungen war sie gesperrt.Interessierte mich als Radler aber nicht, so dass ich den Hügel in aller Ruhe hinaufstrampeln konnte. Mit Verkehr und Abgasen ist das sicher kein angenehmes Unterfangen. In Nieste angekommen wunderte ich mich zunächst über die enorme Ungenauigkeit des Navis: +/- 30 m. Offenbar beeinträchtigten die Hügelketten den Empfang. Nach einigen Fehlversuchen konnte ich dann aber doch die Straße identifizieren,auf der ich mich befand und die Route zu Marianne und Volker ermitteln, wo ich gegen 14 Uhr eintraf.

Distanz: 61 km

Durchschnittsgeschwindigkeit: 17,7 km/h


 

77. Tag, Donnerstag, 18. August – in Kassel

Ruhetag mit Verwandtschaftsbesuchen

 

78. Tag, Freitag, 19. August – bis Schlitz

Noch so 'n Rückreisetag im langweiligen Deutschland. Könnte man meinen – und würde sich irren. Auch hier in der so genannten Heimat gibt es immer noch genug Platz für Absurditäten und Abenteuer des Alltags.

Bevor ich heute morgen von Marianne und Volker aufbrach, freute ich mich zunächst darüber, dass das für gestern angekündigte Unwetter es doch noch nach Kassel geschafft hatte. Denn rechtzeitig zum Ende des Frühstücks begann es in Strömen zu regnen. Mit dem Packen ließ ich mir daher etwas mehr Zeit, was diesmal sogar half. Nachdem ich gegen halb elf endlich aufbrach ließ der Regen allmählich nach. Vom Verlauf der ersten paar Kilometer hatte ich keine rechte Vorstellung, suchte auf dem Navi irgendwo im Süden einen Punkt auf dem R1 Hessenradweg nach Fulda und ließ mich dorthin führen. Wahrscheinlich gibt es kürzere und schönere Wege. Aber die Action auf deutschen Straßen machte das wett. Kassel ist von einem Wirrwarr unzähliger Autobahnen und Bundesstraßen umgeben, so als ob ein ganzes Rudel Lindwürmer einen mythischen Schatz bewachen würde. Wer sich hierher begibt, wagt schon etwas. Für Radfahrer testen Myriaden von Ampeln die Beharrlichkeit und Ausdauer des Geistes. Ist der Eindringling würdig und geduldig genug, um eingelassen zu werden? Eine harte Probe – aber so wahnsinnig, mich mit dem Verkehr anzulegen, bin ich dann doch noch nicht. Andere hatten da weniger Bedenken. An Ampel 376 kam ich mit einem Italiener ins Gespräch, der gerade auf die Polizei wartete, um seinen Auffahrunfall aufzunehmen. Wir unterhielten uns über das Für und Wider des Radfahrens, den Vor- und Nachteilen deutscher Autobahnen und natürlich über das Wetter. Meine Ampel war immer noch rot und fast schienen uns die Gesprächsthemen auszugehen, als es plötzlich gleichzeitig krachte, quietschte, knirschte, splitterte und spritzte. Ein Audi hatte einem Renault mit ordentlich Schwung die gesamte Front wegrasiert. Den Insassen war zum Glück nichts passiert. Aber ihre Gesichtsfarbe passte gut zu dem weiß schäumenden Kühlwasser, das in hohem Bogen aus dem ehemaligen Motorraum schoss. Wer schuld war, konnte ich nicht sagen, aber einige der sich rasch versammelnden Experten meinten, der Renault wäre bei Rot in die Kreuzung gefahren. Mein italienischer Freund hatte dazu keine Meinung, betonte dafür aber mehrmals: „Siehste du, Kassel isse Scheiße.“ Das kann ich so natürlich nicht unterschreiben. Eher schon, dass wir viel zu viele sind, viel zu dicht aufeinander hocken und es in der Regel viel zu eilig haben. Auch ich. Als meine Ampel doch noch grün wurde, fuhr ich weiter, da ich zum Unfallverlauf nichts sagen konnte und nicht noch eine halbe Stunde warten wollte.

In Fuldabrück ging es dann endlich auf den R1 Radweg (bzw. D-Route 9). Ah, welch Ruhe, welch herrliche Landschaft. Selbst der wieder einsetzende Regen konnte meine gute Laune nicht verwässern. Ich kam gut voran, hatte aber mit zunehmenden Ausfällen zu kämpfen. Die Einspeisung vom Pufferakku zum Navi funktioniert nicht mehr. Bin mir nicht sicher, ob es am Akku, dem Kabel oder der USB-Schnittstelle des Navis liegt. Ist aber nicht so tragisch, da ich die restlichen Tage mit AA-Akkus überbrücken kann. Gravierender war die durchrutschende Kette, sobald ich mit etwas mehr Kraft in die Pedale trat. In Rotenburg an der Fulda hatte ich die Nase voll und suchte eine Werkstatt. Der gute Mann meinte, dass die hinteren Ritzel runtergefahren sind, die Kette fällig wäre (Beide hatte ich vor der Abfahrt neu aufgezogen.) und er überhaupt keine Zeit hätte, das jetzt auf die Schnelle zu wechseln. Dann verschwand er wieder in seinem Laden. Sehr enttäuscht wollte ich mich wieder auf den Weg machen. Als ich jedoch in der Karte nach der nächstgelegenen Werkstatt suchte, kam er wieder raus und sagte, er würde mich doch kurz einschieben. Klasse Sache. Freute mich riesig, auch wenn ich durch die Reparatur eineinhalb Stunden verlor. Andererseits: Wäre ich weitergefahren, hätte ich durch das ständige Durchrutschen der Kette nicht nur ebenfalls Zeit sondern wahrscheinlich auch einige Zähne verloren – von anderen wertvollen Körperteilen ganz zu schweigen.

Dann ging es weiter nach Süden. Bebra ließ ich links liegen, obwohl ich seit Matthias Horx' Reisebericht aus den Wilden Achtzigern dort schon immer mal übernachten wollte. Doch dafür war es noch zu früh. Bad Hersfeld war die nächste Station. Laut Karte eine sehenswerte Stadt. Mag sein. Mir kam sie aber eher wie Hildesheim II vor. Viele Zufahrtsstraßen, relativ kleines Stadtzentrum. Außerdem für meinen Geschmack ein bisschen zu viel Kurbetrieb und zu wenig Leben. Immerhin: Der schwer esoterisch angehauchte Magische Brunnen mit seinen Nebelschwaden hat was.

Kurz nach Bad Hersfeld sah ich auf einem Feld drei Störche und bekam sofort Heimweh nach dem Baltikum. Weia, wenn das jetzt schon losgeht, wie wird das dann erst in der Arbeit? Etwa später folgte noch ein tierisches Erlebnis. Ich bog auf dem Radweg um die Ecke, als plötzlich eine Stampede junger Stiere oder Ochsen (zu wenig Zeit für die Details) auf mich zustürmte. Ok, zwischen uns war noch ein Zaun aus hinreichend stabilen Balken. Ich habe aber genug Western gesehen, um zu wissen, dass das gar nichts hilft. Das allerdings ein Wasserwagen als Ablenkung genügt, hat Hollywood verschwiegen. Was die Viecher aber so in Aufregung versetzt hat, blieb ein Rätsel.

Kurz vor acht kam ich in Schlitz an – etwa 25 km nördlich von meinem eigentlichen Minimaltagesziel Fulda. Nach der kurzen Unterkunftsuche und einer Dusche bummelte ich durch die Gassen der alten Fachwerkstatt. Wieder einmal ein Volltreffer. Ein echtes Märklinstädtchen. Ich seh schon, die Rhön muss ich auch noch mal separat erradeln.

Distanz: 125 km

Durchschnittsgeschwindigkeit: 19,4 km/h

 

79. Tag, Samstag, 20. August – bis Bad Kissingen

Traumhaftes Wetter heute. Zuerst ging es nach Fulda. Schöne Stadt mit wahrhaft mittelalterlichem Flair. Auf der Suche nach dem Dom verfuhr ich mich ein wenig und landete beim Franziskanerkloster. Auch schön, aber der Kreuzweg mit seinen akribisch notierten Ablässen wirkte schon sehr fremdartig auf mich. Die müssen damals exzellente Buchhalter mit einem direkten Draht zum himmlischen Rechnungswesen gehabt haben. Trotzdem bleiben jede Menge Fragen offen. Wenn beispielsweise fünf Vaterunser einen Ablass von zwei Jahren bewirken, führt dann ein halbes Vaterunser zu 4,8 Monaten Ablass? Wie viel ist ein einzelnes Wort, ein einzelner Buchstabe wert? Und gibt es für rückwärts gesprochene Gebete negative Ablässe? Genug davon. Wahrscheinlich tippe ich mich gerade um Kopf und Kragen.

Von Fulda ging es weiter nach Gersfeld, wo ich mir ein Dürüm Döner und zwei 0,3-l-Radler gönnte. Bitteschön, was ist denn das für eine bescheuertes Schankvolumen? Man will das Zeug doch wohl trinken, um den Durst zu stillen, und nicht nur kosten. Nach Gersfeld zeigte sich die Rhön das einzige Mal von ihrer bissigen Seite. Der Radweg vermied alle Tallagen und zog sich direkt über zwei ansehnliche Hügel hinweg. Mit vollem Bauch und der Sonne im Zenit schob ich mich auf 700 Höhenmeter hoch. Hat nicht unbedingt Spaß gemacht. Die anschließende viertelstündige Abfahrt in Richtung Bischofsheim an der Rhön dagegen schon. Auch die Etappe bis Neustadt an der Saale war angenehm zu fahren. Lediglich an einer Stelle kam ich vom Rhönradweg ab und fuhr einige Kilometer über immer schmalere und schottrige Feldwege, bis ich an einer kleinen, fünf Meter breiten, 50 Zentimeter Furt stand. Umkehren kam nicht Frage. Also Schuhe ausziehen und sehr vorsichtig über die algenschlüpfrigen Steine waten. Auf der anderen Seite stieß ich auf ein Pärchen, das sich im Schatten vergnügte. Ich tat mein Bestes, sie nicht zu bemerken. Nicht so die beiden, die nun erst richtig loslegten. Seltsame Gegend :-)

In Neustadt angekommen – mittlerweile war ca. 18 Uhr – stellte sich die Frage, wo übernachten. Münnerstadt wäre ein interessanter Ort gewesen, lag mit nur 10 km aber zu nah. Ich entschloss mich, ins 25 km entfernte Bad Kissingen zu fahren. Das liegt zwar nicht wesentlich weiter südlich, aber ich hatte einfach Lust auf ein paar weitere Kilometer. Nur hatte ich dabei nicht bedacht, dass Bad Kissingen als Kurort und Casinostadt möglicherweise ein wenig überlaufen ist. Die Fassade des ersten willkürlich im Navi ausgewählten Hotels schrie mir dann auch förmlich „TEUER!“ entgegen. Eingeschüchtert trollte ich mich von dannen und fragte vergeblich bei vier oder fünf Pensionen an, ob für heute Nacht noch ein Zimmer frei wäre. Letzten Endes landete ich im Bayerischen Hof zu einem akzeptablen Preis.

Frisch geduscht und mit den am wenigsten müffelnden Klamotten machte ich mich gegen halb zehn auf die Suche nach einer Pizza o.ä. und einem Bier. Sollte nicht sein. Entweder war kein Platz frei oder die Lokalität für meinen Geschmack ein wenig zu exclusiv (mit c wohlgemerkt). Immerhin bekam ich noch die letzten beiden Songs von Suzi Quatro and Band im Kurpark mit. Selbstverständlich nur als Zaungast. Das zahlende Publikum schien aber recht begeistert zu sein. Eine halbe Stunde später folgte dann noch ein Feuerwerk, das eine ältere Dame nicht ganz unzutreffend als Aldi-Budenzauber bezeichnete.

Alles in allem: Für Bad Kissingen bin ich noch nicht reif. Hat aber auch Zeit.

Distanz: 123 km

Durchschnittsgeschwindigkeit: 17,3 km/h


 

80. Tag, Sonntag, 21. August – nach Hause

Heute also nach Hause. Zwischenzeitlich hatte ich zwar überlegt, noch ein paar Tage mit Umwegen dranzuhängen, doch dann siegte die Bequemlichkeit. Außerdem gefällt mir die Zahl: In 80 Tagen zum Nordkap und zurück. Das ist weder besonders schnell und schon gar nicht um die Welt. Für mich war es dennoch eine kleine Weltreise.

Bis es soweit war, mussten aber noch ein paar Kilometer bewältigt werden. Die richtige Basis dafür bildet ein ausgiebiges Frühstück mit frischen Semmeln und fruchtigen Marmeladen. Die anderen Hotelgäste bildeten dazu den passenden Kontrast: eine gesunde Mischung aus Kur und Butterfahrt. Vor allem ein älterer Herr verdiente sich durch seine Virtuosität im Umgang mit modernen Kommunikationsmitteln meine Bewunderung. Wenn er nicht gerade SMS tippte, führte er spannende Telefonate in denen es um die Zusammensetzung des Frühstücksbuffets, das Wetter der letzten Woche und den vermutlichen Aufenthaltsort vom Henner, der Uschi und ein paar anderen mutmaßlichen Bekannten ging. Alles selbstverständlich in einer Lautstärke, die auch den Salzburger Festspielen gerecht geworden wäre.

Ich hatte bald genug gehört und sah zu, diesen Ort schnell zu verlassen und frühestens in 30 Jahren wiederzukehren. Mein heutiger Weg war angenehm übersichtlich: Erst einmal nach Schweinfurt, dann am Main entlang bis Bamberg und ab dort dem Main-Donau-Kanal nach Süden folgen. Bis Schweinfurt mussten noch die letzten Ausläufer der Rhön bewältigt werden – verbunden mit ein bisschen Schwitzen und ungesund knirschenden Geräuschen aus der Pedalgegend. Ich fürchtete schon, Sand im Tretlager zu haben. In Schweinfurt stellte ich dann aber fest, dass ein Kettenglied nicht ordentlich geschlossen war und ein Bolzen hervorragte. Ließ sich schnell beheben.

Gefühlt ging es nun immer flach am Fluss entlang. Das Höhenprofil der heutigen Routenaufzeichnung zeigt aber einen kontinuierlichen Anstieg bis Nürnberg. Es waren wieder viele Radler unterwegs. Neben zahlreichen Ausflüglern auch etliche Selfmade-Profis in kreischend bunten Radbekleidungen, die sie zwar nicht schneller machten, aber immerhin rechtzeitig als Hindernis erkennen ließen. Schon seltsam, wie Masse die Wertschätzung mindert. Oben im Norden habe ich jeden Radler – egal ob Weltenbummler oder Einheimischer – begeistert begrüßt. Hier wird die Hand nur noch gehoben, wenn das Gepäck für eine längere Tour ausgelegt ist. Der Rest muss sich mit einem angedeuteten Nicken begnügen. Die anderen handhaben das aber genauso.

Eine besondere Herausforderung war Bamberg. Ich liebe diese Stadt. Auch bin ich mir durchaus bewusst, dass sie einer der größeren Touristenmagneten in Deutschland ist. An einem schönen Sommersonntag war ich allerdings noch nicht dort – und werde es auch nie wieder sein. Unglaublich, in wie viele Richtungen eine einzelne Person gleichzeitig im Weg stehen kann. Ganz schlecht, wenn jeder zudem sein Hindernispotential dynamisch mit den umstehenden Obstruenten (Passanten sind es ja keine) abstimmt. Es dauerte eine gute dreiviertel Stunde bis ich mich schiebend durch die Innenstadt gekämpft hatte. Auf einer Parkbank am Regnitzufer verschnaufte ich ein wenig und sinnierte leicht melancholisch über meine Situation nach. Was will ich hier? Wohin will ich? Habe ich, wenn ich mich überall zu Hause fühlen kann,überhaupt noch eine Heimat? Oder wäre es nicht besser, die Vorstellung eines festen Ruhepunktes loszulassen? Sich freizumachen von der Notwendigkeit, immer und immer wieder an den gleichen Ort zurückzukehren? Alles sehr romantisch und bei gutem Wetter sicher eine Verlockung. Als es dann zu regnen begann, machte ich mich folgerichtig auf den Weg nach Hause. Wo immer das auch sein mag.
 

Distanz: 170 km

Durchschnittsgeschwindigkeit: 19,4 km/h

 

 

 

 



 

 

 

 

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