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25. Tag, Montag, 27. Juni – nach Helsinki

Bin ganz entspannt erst um neun aufgestanden, anschließend fast eine Dreiviertelstunde lang das Frühstücksbuffet geplündert und schließlich noch Zigaretten besorgt. Im Tallinner Hafen dauerte es ein wenig, bis ich verstand, wo meine Fähre ablegen würde. Das Ticket für mein Rad und kostete 33 Euro; die Überfahrt sollte 3,5 Stunden dauern. Beim Warten aufs Boarding sprach mich ein anderer Radler auf englisch an und erkundigte sich nach dem Woher und Wohin? Nachdem wir uns darauf geeinigt hatten, beide aus Deutschland zu kommen, entwickelte sich schnell ein nettes Gespräch. Heinz aus München war mit Christiane aus Berlin in Riga aufgebrochen und bis hierher mit dem Rad gefahren. Nun sollte es erst einmal nach Helsinki gehen. Wir gingen gemeinsam an Bord und ratschten bald über alles mögliche – von lettischen Mittsommerfeiern bis hin zu Windstärken.

Während der Überfahrt wurde das Wetter immer besser. Statt der grauen 14 °C empfing uns Helsinki mit 22 °C bei strahlendstem Sonnenschein. Nach der Fähre trennten wir uns, da die beiden noch Tickets für die Rückfahrt nach Rostock organisieren wollten. Mir stand der Sinn dagegen eher nach der Tourist Information, um möglichst bald meinen Krempel abladen zu können. Das konnte ja nicht so schwer sein. Schließlich hatte ich morgens noch die Adresse im Web herausgesucht: Pohjoinenesplanadi 19. Für den Anfang machte ich mich in eine Richtung auf, die mir aufs Zentrum gerichtet zu sein schien. War sie auch irgendwie, halt nur nicht so besonders direkt. Nach ein paar weiteren Versuchen hatte ich mich hoffnungslos verfranst. Es war heiß. Die Stadt erstaunlich hügelig. Überall Menschen. Und jede Menge Straßen mit den falschen Namen. Ich musste unwillkürlich an Hape Kerkeling als R.I.P. Uli mit dem Song „Helsinki is hell“ denken. Eine Infosäule mit Stadtplan bin ich insgesamt vier mal angefahren, um meinen Standort zu überprüfen. Das Navi half auch nicht weiter, da dort viel zu viele Infos gespeichert waren, um überhaupt noch was zu erkennen. Am Schluss habe ich den Kompass ausgepackt und bin mit ihm ungefähr in die richtige Richtung gelaufen – an jeder Abzweigung 90° addierend oder subtrahierend. Hat dann auch funktioniert.

Als ich endlich an der Tourist Info ankam, saß dort schon ganz entspannt Heinz. Wir entschlossen kurzerhand, in einem Hostel gemeinsam ein Dreibettzimmer zu nehmen und verbrachten den Abend bei dem ein oder anderen Bier mit interessanten Gesprächen über Reisen, Segeln und Christianes Erlebnisse als Lehrerin in Indien. Am nächsten Morgen trennte sich unsere Wege dann. Vielen Dank Euch beiden für den netten Tag und Abend und die Gespräche. Mögt Ihr stets den richtigen Wind auf Euren Wegen haben.

Ach ja, die 60° nördlicher Breite machen sich bemerkbar. Nachts um eins konnte ich bei wolkenlosem Himmel gerade mal zwei Sterne ausmachen.


Distanz: 97 km (ohne Eigenleistung)


 

26. Tag, Montag, 28. Juni – in Helsinki

Mal wieder ein Ruhetag. Diesmal sogar ohne schlechtes Gewissen. Denn anders als in Birštonas hat sich dieser gelohnt (herrje, immer dieses Effizienzdenken). Nachdem ich mich von Christiane und Heinz verabschiedet hatte, machte ich mich auf die Suche nach dem noch fehlenden Kartenmaterial. Bis Oulu fand ich zwei hervorragende Radtourenführer mit jeder Menge touristischer Hinweise. Beide obendrein auch noch extrem günstig. Teurer fielen dagegen die Karten für die Nordkalotte und Schweden aus. Anschließend schickte ich die nicht mehr benötigten polnischen und baltischen Karte nach Hause. Auch nicht ganz billig, aber vor allem auf das gute litauische Kartenmaterial möchte ich in Zukunft nicht verzichten. Gewichtsmäßig ändert sich durch den Kartentausch nichts.

Den Rest des Tages ließ ich mich durch Tallinn treiben, kaufte bei Stockmanns (nobles Riesenkaufhaus) etwas Verpflegung und vor allem meine geliebten Fruchtsuppen und tingelte dann zum Hafenmarkt. Etwas Warmes zu essen wäre schließlich auch mal wieder recht (Auch wenn es gestern Abend eine leckere Pizza Rudolph mit Rentierfleisch gab). Ich entschied mich für ein Schälchen Tintenfischringe mit Knoblauchmayo. Kaum hatte ich bezahlt und war unter dem Zelt des Verkaufsstandes hervorgetreten, stürzte sich ein Schwarm Möwen auf meine, ich betone meine, Tintenfischringe, schnappten sich ein paar und schlugen mir die Schale aus der Hand. Harrgottsnah, gottverfluchte Drecksviecher, elendige! Unter internationaler Anteilnahme („Ouh“, „Shit happens“, „Perkele“) klaubte ich die verbleibenden Ringe vom Pflaster auf. Irgendwo aus der Menge waren auch ein paar deutsche Wortfetzen zu hören: „Der wird das doch wohl nicht noch essen?“ Doch, wird er. Der Bub hat nämlich Hunger und denkt nicht daran, seinen Tintenfisch einem Haufen Luftpunks zu überlassen.

Mittlerweile war es Abend geworden und ich kehrte ins Hostel zurück, um noch schnell meine Wäsche zu waschen – und dank Trockner diesmal sogar garantiert im gewünschten Zustand zu erhalten. Während des Wasch- und Trockenganges setzte ich mich mit Simon, einem Offenburger, auf ein Bier vor die Tür und ratschte übers Reisen. Alles in allem ein feiner Tag. Nur die Möwen sollten sich in Zukunft in Acht nehmen, dass sie nicht selbst auf meinem Speiseplan landen.

 Distanz: Keine

 

27. Tag, Mittwoch, 29. Juni – bis Siuntio

Die Fahrt aus Helsinki heraus hat Zeit und Nerven gekostet. Interessanterweise lag es diesmal nicht am Verkehr, sondern an den Radwegen. Sie waren gut geteert oder schon fest gesandet. Sie waren breit und nicht zu übersehen. Sie waren links und rechts und vorne und hinten und einfach überall. Kurz: Es war einfach zuviel des Guten. An jedem Zebrastreifen,jeder Abzweigung musste ich mich vergewissern, ob ich noch auf der vorgeschlagenen Route meines neuen Radführers war. Die vorgeschlagenen Routen sind landschaftlich wunderbar, aber halt eher für Ausflugsradler mit max. 30 Tageskilometern ausgelegt. Entsprechend verschlungen sind die Wege. Mit feste in die Pedale treten ist da nichts drin. Ich habe mehrere Stunden gebraucht, um auf diesen Routen aus dem Großraum Helsinki-Espoo rauszukommen. Inzwischen bin ich nach Masuren schon im zweiten Voralpenland dieser Reise angekommen. Viel Landwirtschaft und etliche, teils knackige Hügel. Dazwischen immer wieder lange Abfahrten mit 40-50 km/h.

Mal abgesehen von den Startschwierigkeiten heute lässt sich Finnland gut an. Die „Kunninkantie“ des Radführers werde ich aber nur selektiv nachfahren und dazwischen immer wieder größere Strecken auf stärker befahrenen, aber direkteren Straßen bewältigen. Also ein Kompromiss zwischen der polnischen Navigation und dem Blümchenstil des Radführers.

Distanz: 91 km

Durchschnittsgeschwindigkeit: 16.3 km/h


 

28. Tag, Donnerstag, 30. Juni – bis Turku

Hier … ist … es … heiß … und … hügelig.

Das war jetzt ein wenig anstrengender als erwartet. Bin angenehm früh gestartet. Die ausgesuchten Strecken haben sich als sehr ruhig erwiesen. Kam gut voran. Aber dann war da eben auch noch die Sonne. Und die Hügel. Beide für sich alleine nicht tragisch, zusammen aber an der Schmerzgrenze. Laut Wetter online waren es nur 27 °C, gefühlt hätte ich auf mindestens 30 °C getippt. Kaum Schatten, da hier viel Landwirtschaft mit großen Feldern betrieben wird. Den Kick geben aber die Hügel. Die ersten paar machen Spaß. Geht ja nur kurz bergauf und danach wieder ein langes Stück bergab, wo man gar nichts tun muss und trotzdem 40 km/h erreicht. Dann ändert sich aber irgendwas. Die Anstiege beginnen früher und flacher. Sobald sie einen auf 10 bis 11 km/h runtergebremst haben, kommen noch ein paar hundert Meter mit wirklich giftigem Anstieg. Spätestens den vierten dieser Sorte schiebt man – natürlich in der Sonne.

Gesund ist sicher anders. Der Sonnenbrand im Gesicht und auf den Beinen geht dabei in Ordnung. Mehr Sorgen machte mir die Möglichkeit eines Sonnenstichs. Vor allem als ich nach Salo an einem Feld vorbei fuhr, in dem ein Dutzend Frauen mit diesen charakteristischen südostasiatischen Kegelhüten irgendwas ernteten. Für Sekundenbruchteile oszillierten meine Gedanken zwischen den Polen „Au scheiße, jetzt haste dich wirklich übel verfahren.“ und „Sofort absteigen, in den Schatten legen, auf den Arzt warten.“ Doch die Szene blieb auch bei wiederholten Kontrollblicken stabil. Ich habe keine Ahnung, was die Guten da geerntet haben. Reis oder Tee war es nicht. Aber egal was, so gehört sich das einfach nicht. Da diskutiert halb Europa über ein Kopftuchverbot und verkennt völlig die Gefahren des Kegelhuttragens. Echt wahr, wir setzen unsere Prioritäten falsch.

Falsche Prioritäten – das passt auch irgendwie zu meiner Übernachtungssuche. In Paimio zeigte das Navi um 16:00 Uhr einen Campingplatz in der Nähe an. Da die 100 km bereits geschafft waren, wäre ich fast dorthin gefahren. Als es jedoch ans Abbiegen ging, lag gerade eine herrliche Gefällestrecke vor mir. Und Turku war auch nur noch 30 km entfernt. Also blieb ich auf der Geraden und kämpfte mich bis Turku durch. Zu diesem Zeitpunkt wusste ich noch nicht, dass die Hafenstadt dieses Jahr Europäische Kulturhauptstadt ist. Da die Tourist Info schon zu hatte (die wissen das mit der Kulturhauptstadt offenbar auch nicht), machte ich mich so auf die Suche nach einer Übernachtungsgelegenheit. Das erste Hostel war belegt. Das zweite auch. Vor dem dritten fiel mir ein, dass Simon in Helsinki schon erwähnt hatte, dass er in Turku keine Übernachtung buchen konnte. Das vierte Hotel war ein – ja, was eigentlich? Wohl ein Automatenhotel. Zwei dicke Überwachungskameras am zugesperrten Eingang. Daneben die Aufforderung, erst mal die Kreditkarte in den Slot zu stecken, um dann Zugang zur Robotrezeption zu bekommen, wo man sich bequem registrieren könne. Nee sorry, für diesen Vertrauensvorschuss sah mir der Kasten dann doch ein bisschen zu schmuddelig aus. Wenn schon draufzahlen, dann mit Stil. Jetzt sitze ich im Scandic Plaza, habe ein super Bett und Zimmer – und ärgere mich dennoch, dass ich nicht den Campingplatz in Paimio angefahren bin.

Wurscht, zu spät ist zu spät. Die Tagesleistung hat trotz allem gestimmt. Die Westküste ist erreicht, so dass es morgen mehr oder weniger direkt nach Norden weitergehen kann. Bzw.: Habe mir noch einmal den Radreiseführer für die Küstenroute Turku-Oulu angesehen. Da es nur wenige brauchbare Wege direkt nach Pori gibt, werde ich ein paar Umwege durch die Schären in Kauf nehmen. Landschaftlich ist das sicher reizvoller und vielleicht auch ein wenig kühler. Draußen hat es jetzt um halb zwölf nachts immer noch 25 °C.

Distanz: 135 km

Durchschnittsgeschwindigkeit: 20 km/h

 

29. Tag, Freitag, 1. Juli – bis Uusikaupunki

Mit einem bombastischen Frühstück gut in den Tag gestartet. Von erstklassigen Köttbullar über Müsli mit Nüssen und Trockenobst aus aller Welt bis hin zu ofenfrischem Hefezopf mit hausgemachter Erdbeermarmelade. Habe so reingehauen, dass ich erst abends wieder was essen musste. Insofern einen Gutteil der Kosten wieder reingeholt.

Aufgebrochen bin ich erst gegen 11 Uhr und habe mir dann noch Zeit gelassen für Turku und ein paar Umwege durch die Schärenlandschaft. Hat sich gelohnt. Es war nicht mehr ganz so heiß wie gestern und auch die Steigungen hielten sich etwas zurück. Sehr schnuckelig war Naantali – touristisch natürlich ziemlich überlaufen. Hätte das Städtchen nicht bereits 500 Jahre auf dem Buckel, würde es wohl von der Disney Corporation geleitet werden.

An der gut 20 m hohen Brücke zur nächsten Insel hatten ein paar Kids ihren Spaß. Sie hatten ein Bungee-Seil am Geländer befestigt, kletterten dann die Bögen rauf und schwangen sich von dort aus raus. Ein paar mal hin und herpendeln, um schließlich aus gut 10 m Höhe loszulassen. So flink sie beim Klettern waren, so fix waren fast alle verschwunden, als die Polizei auftauchte. Lediglich zwei hatten das Pech, nähere Auskünfte zum Wieso und Warum geben zu müssen.

Nachmittags trat ich etwas fester rein, um noch ein wenig Strecke zu machen. Hat gut geklappt, so dass ich gegen 19 Uhr auf dem Campingplatz in Uusikaupunki eintraf. Morgen will ich versuchen, bis Pori zu kommen. Musste dafür die Route des Radführers ziemlich ändern. Mal schauen, ob das Navi versteht, was ich da zusammengestellt habe.


 

Distanz: 112 km

Durchschnittsgeschwindigkeit: 19,1 km/h

 

30. Tag, Samstag, 2. Juli – bis hinter Pori

War wieder sehr heiß und schwül heute – alles ziemlich anstrengend. Habe heute in Rauma eine 90-minütige Siesta eingeschoben. Sehr zur Freude anderer Touristen, die ein dankbares Fotomotiv gefunden hatten. Mir egal, ich wollte nur dösen und dass die Sonne endlich abhaut. Zunächst schien mir mein Wunsch erfüllt zu werden. Gewaltige Gewittertürme bildeten sich im Osten. Auch Donnergrummeln war bereits zu hören. Mit neuem Mut machte ich mich wieder auf den Weg. Der aufkommende Wind kühlte zunächst und die Sonne wurde tatsächlich von den Wolken abgeschirmt. Aber nicht lange. Dann hatte sie den ganzen Zauber einfach wieder weggesengt.

Mehr Glück sollte ich erst um 18 Uhr haben. Kurz vor Pori hatte sich erneut eine starke Gewitterfront gebildet. Und die ließ sich nicht so einfach vertreiben. Ich erreichte gerade noch eine Bushaltestelle, bevor der Zauber losging. Heftiger Regen, etwas Hagel und jede Menge Blitze in unmittelbarer Nähe. Mir war das Recht. Ich saß im Schneidersitz auf der Bank, von allen wichtigen Seiten gut geschützt. Gerade als ich mir genüsslich eine Zigarette anzündete, hielt ein Wagen mit einer jungen finnischen Familie, die mich zunächst auf Finnisch, dann auf Englisch einluden, das Unwetter doch bei Ihnen abzuwarten. Ich fand das ausgesprochen nett, lehnte aber dennoch dankend ab. Denn hier in meiner Bushaltestelle war ich trocken und sicher. Bis ich bei ihnen – und wenn es auch nur 20 m entfernt gewesen wäre – wäre ich nass bis auf die Knochen gewesen. Dann lieber abwarten. Nach gut einer Stunde war das Gröbste überstanden. Für den restlichen Regen zog ich meine Regenausrüstung an und machte mich auf den Weg für die letzten 17 km. Zog sich ziemlich hin. Aber letztendlich kam ich am Campingplatz an. Das erhoffte Cottage war zwar nicht frei, aber Zelten kein Problem. Mal schauen, wie es morgen weiter geht. Derzeit regnet es wieder kräftig, macht aber nicht den Eindruck von Landregen.

Vorhin habe ich noch einmal meine Küstentour entlang der finnischen Küste überschlagen. Wahrscheinlich brauche ich für Finnland doch gut vier Tage mehr als ursprünglich kalkuliert. Ist nicht tragisch, kann aber dazu führen, dass ich Schweden nicht bis ganz nach Süden fahren werde, sondern schon vorher auf krummen Fährenrouten nach Deutschland übersetze. Aber das ist alles noch ganz weit weg.

Habe heute morgen auf dem Campingplatz noch einen Freiburger getroffen, der gerade aus dem Norden kommt. Von den Mücken in und um Rovaniemi hat er regelrechte Schauergeschichten erzählt. Wuah, mich kribbelt's jetzt schon überall.


 

Distanz: 124 km

Durchschnittsgeschwindigkeit: 19 km/h


 

31. Tag, Sonntag, 3. Juli – bis Kristiinankaupunki (Kristinestad)

Ein langer Tag. Nicht unbedingt wegen der Fahrleistung, sondern wegen der wachen Stunden. Es begann damit, dass es die ganze Nacht durchregnete bzw. ein Gewitter das andere ablöste. Nun liebe ich es eigentlich, bei Regen im Zelt zu schlafen. Es gibt kaum ein beruhigenderes Geräusch als das Trommeln der Tropfen. Nur raus muss man halt nicht unbedingt müssen. Und idealerweise sollte der Zauber am nächsten Morgen vorbei sein. Beides traf nicht zu.

Zunächst fand ich mich in einem Traum wieder, in dem irgend so ein Plastikstar von Bohlens Gnaden „Schlaf, Kindlein, schlaf“ als Soul-Version intonierte. Mehr geschrien als gesungen – aber das sehr ausdauernd. Ein echter Albtraum. Ich selbst saß eingeklemmt zwischen Schornstein und Dachschräge und versuchte verzweifelt, mich in die Tiefe zu stürzen, um der Qual ein Ende zu bereiten. Irgendwann muss mir das gelungen, denn plötzlich war ich wach. Nur: Die Musik hörte nicht auf. In bester Früh-Moderator-Fröhlichkeit plärrte der Sender Suomipop über den Zeltplatz. Schade, ich hätte gerne noch etwas geschlafen. Aber offenbar war es bereits Zeit zum Aufstehen. Sicherheitshalber ein kurzer Blick auf die Uhr: 3:40 h. Ja, geht’s euch sonst noch gut? Ich drehte mich um, und versuchte weiterzuschlafen. Vielleicht ist der Wahnsinn gleich vorbei. War er nicht. Nach fünf Minuten wurde lediglich noch ein wenig lauter aufgedreht. Weitere fünf Minuten später, war der Unwillen über die Lautstärke und den gespielten Mainstream-Müll größer als der Widerwillen vor dem Regen. Ich quälte mich aus meiner Dackelgarage und stapfte stinksauer zu einem vollverspoilerten ferrariroten Nicht-Ferrari, der keine fünf Meter mit offener Beifahrertür stand. Drinnen saß eine vielleicht 19-Jährige, die an ihrem Handy herumfummelte. Auf meine nachdrückliche Bitte, den Scheiß leiser zu stellen, sah sie mich nur verständnislos an, drehte den Pegel aber auf Zimmerlautstärke runter. Ich – immer noch fluchend – zurück zum Zelt, Schuhe aus und wieder ab in den Schlafsack. Was mich an der ganzen Szene am meisten ärgerte, kann ich gar nicht sagen. Die Lautstärke mitten in der Nacht? Ihr absolut unterirdischer Musikgeschmack? Die sinnfreie Soloparty, ohne wenigstens mit ein paar Freunden die Sau rauszulassen? Oder dass ich mich das erste Mal in meinem Leben als alter Sack aufgeführt habe? Wohl alles zusammen.

Ein Nachspiel hatte die Sache noch. Ich hatte meine Stiefel so schlampig unter die Apsis geschleudert, dass einer am Morgen klatschnass war und ich barfuß in Sandalen fahren musste (tritt sich schlecht). Und warum das alles? Alles nur wegen Radio Suomipop, seiner Kernzielgruppe und Samstagnacht auf einem Zeltplatz.

Als es wirklich Zeit zum Aufstehen wurde, regnete es immer noch. Auch nach dem Frühstück. Ich packte meine Sachen nass zusammen und wollte eigentlich nur eine kurze Tour bis Merikarvia unternehmen. Dort kam ich aber noch vor Mittag an. Außerdem hatte der Regen aufgehört und eine tiefhängende Wolkendecke ließ die Sonne außen vor. Bei ca. 15 °C besserte sich meine Laune allmählich wieder und ich beschloss bis Kristinestad weiterzufahren. Hat sich rentiert. Zwischendrin bremste mich ein steifer Nordostwind zwar etwas aus – verglichen mit der Hitze der letzten Tage war das aber perfektes Radwetter.

Ach ja: Bin jetzt genau einen Monat unterwegs. Dazu passend wurde heute nachmittag  Kilometer 3000 erreicht.


Distanz: 113 km

Durchschnittsgeschwindigkeit: 19,1 km/h

 

 

32. Tag, Montag, 4. Juli - bis Vaasa


Was für ein herrlicher Tag. 16 °C, bedeckter Himmel, leichter Wind aus Südost, jede Menge abgelegene Sandwege. Einfach allerbeste Fahrradbedingungen. Bin erst spät gegen elf Uhr aus Kristinestad abgefahren. Es war aber auch keine Eile geboten, da bis Vaasa, meinem heutigen Tagesziel, nur knapp 100 km vor mir lagen. Den Vormittag kam ich mit einem guten 23er-Schnitt voran. Das lag nicht zuletzt an der Landschaft Österbottens, die – soweit ich mich erinnern kann – das erste echte Stück Flachland dieser Tour war. Auch mal nett sowas :-)

Apropos erinnern: Es ist faszinierend zu beobachten, wie sich die eigene Zeitwahrnehmung auf so einer längeren Reise verändert. Ich plane einen Tag voraus und habe den vorherigen Tag halbwegs präsent im Kopf. Wo ich vorgestern war und was sich „damals“ ereignete? Da muss ich schon nachdenken. Keine Sorge, das ist keine Spätfolge der heißen Tage im Süden. Es ist einfach nur nicht wichtig. Was zählt (hm, falscher Ausdruck), was real ist, ist nur das Hier und Jetzt. Eine sehr befreiende Empfindung.

Zurück zu Österbotten: Am Wegesrand lagen einige feine bunte Holzkirchen sowie jede Menge Gewächshäuser. Wäre dieser tiefhängende, irgendwie sehr finnisch wirkende Himmel nicht gewesen, hätte man auch auf den Gedanken kommen können, in Holland zu sein. Nachmittags begann ich mit einem neuen Hörbuch. Peter F. Hamilton: The dreaming void. Groß angelegte Space Opera mit so vielen unterschiedlichen Handlungssträngen, dass ich zeitweilig den Verdacht hatte, die Reihenfolge der einzelnen Tracks wäre durcheinander geraten. Auf jeden Fall äußerst fesselnd. Nach einem besonders spannenden und actionreichen Kapitel bemerkte ich erstaunt, dass die letzten 15 km quasi unbemerkt an mir vorbeigezogen waren – und ich wie ein Irrer mit 27 km/h durch die Gegend raste. Passenderweise in einem riesigen, 520 Millionen Jahre alten Meteoritenkrater kurz vor Vaasa. Welches Artensterben folgte damals eigentlich? Egal, heute ist er ein wichtiger Stationspunkt für Zugvögel.

Vor Vaasa nahm der Verkehr wieder deutlich zu, so dass ich den MP3-Player beiseite legte. Am Campingplatz kam ich um kurz nach 18 Uhr an. Früh für meine Verhältnisse. Nachdem das Zelt war rasch aufgebaut war, unternahm ich noch einen kurzen Ausflug in die Stadt. Erstaunlich, wie das Rad unbeladen plötzlich abgeht. Nichts mehr von dem sonst üblichen, U-Boot-artigen Fahrtaufnehmen. Nur der Lenker flattert ohne die beiden Frontrollertaschen wie die Seuche. Bin gespannt, wie schnell ich mich daheim wieder umgewöhne.

Eine nette Begegnung gab es heute vormittag in Plelax (Notiz an mich: Rausfinden, was das Suffix lax in schwedischen Ortsbezeichnungen bedeutet). Ich stand gerade an einer Kreuzung und sah in der Karte nach, wo es weitergeht. Da rief mir eine Frau von der anderen Straßenseite etwas auf Englisch zu. Ich rollte kurz zu ihr rüber und wir begannen sogleich das übliche Woher-wohin-Spiel. Sie erzählte, dass ein Bekannter vor kurzem auch eine größere Reise unternommen hat. Er ist hier in Mittelfinnland losgelaufen, hat mit der Fähre nach Schweden übergesetzt und hatscht dann mal eben nach Gibraltar. Weihnachten will er dort ankommen. Irgendwie finde ich es unglaublich beruhigend, dass es solche Leute gibt. Am Schluss gab mir Mary-Ann, so hieß die Gute, noch ihre Karte und meinte, ich solle anrufen, wenn's Probleme gäbe. Ich seh schon: Ich werde am Kap mehr Karten schreiben müssen. Mach ich aber gerne.

Apropos: Habe gestern im Radreiseforum einen interessanten Link zu einem anderen Nordkappradler gefunden: http://kingcrabs-choice.blogspot.com/2010/05/reisen-bildet.html Dagegen ist das Tourigeschaukle, das ich hier veranstaltete, ja noch nicht einmal Kinderfasching. Dem Mann gebührt Respekt.


Distanz: 124 km

Durchschnittsgeschwindigkeit: 19,3 km/h

 

 

33. Tag, Dienstag, 5.Juli – bis Pietarsaari

Mal wieder ein verkehrsreicherer Tag. Um nicht allzu viele Umwege zu fahren, entschloss ich mich, einige Teilstrecken auf der A8 zurückzulegen. Hat funktioniert, aber der Nervfaktor ist doch recht hoch. Auch auf den Nebenstrecken war relativ viel los. Seltsam, denn teilweise hat man schon den Eindruck, am Ende der Welt unterwegs zu sein. Doch dann taucht plötzlich ein Pulk von fünf Autos oder mehr auf, um sogleich wieder in der hinterlassenen Staubwolke zu verschwinden. Da die Nebenstraßen sich mittlerweile meist durch Wald schlängeln, wird es auch schwerer, die zurückgelegte Distanz zu beurteilen. Gerade, Wald, Kurve, Wald, etc.

Bin aber doch recht gut vorangekommen. Am Schluss sogar rund 10 km weiter als beabsichtigt, da ein eingetragener Campingplatz mal wieder nicht zu Hause war. Schade, der Ort wäre traumhaft gewesen: feiner weißer Sandstrand eingerahmt von den typischen gletschergeschliffenen Granitfelsen. Nun sitze ich auf einem eher einfachen, dafür angenehm leeren Campingplatz und genieße meinen Tee in der Küche. Denn draußen nehmen die Mücken Aufstellung. Schon gestern in Vaasa konnte ich eine deutliche Zunahme beobachten. Ist noch nicht kritisch, begeistern tut's mich trotzdem nicht.
 

Distanz: 129 km

Durchschnittsgeschwindigkeit: 19,1 km/h


34. Tag, Mittwoch, 6. Juli – bis Kalajoki

Wieder eine herrlicher Tag. Der Himmel ist aufgerissen und die Sonne strahlt – ohne zu brennen. Bin heute früh ausnahmsweise mal vor neun losgekommen und konnte gut Strecke machen. Und das, obwohl ich in der Nacht ständig aufgewacht bin, weil ich dachte, es wäre schon Morgen. Das beste war das Frühkonzert der Vögel. Zwei Amseln und ein anderer Sangeskünstler (Nachtigall?) lieferten sich einen aufführungsreifen Wettstreit. Nur war es eben gerade mal ein Uhr vorbei. Die hellen Nächte gehen also auch an den Tieren nicht spurlos vorbei.

Eigentlich hätte heute eine über 140 km lange Strecke vor mir gelegen. Ich habe die ganzen Abzweigungen des Radführers aber ignoriert und mich an die Hauptstraße gehalten. Lief ausgesprochen gut. Wahrscheinlich ist Dienstag der finnische Autotag, so dass man mittwochs seine Ruhe hat. Bereits nach 100 km war ich am Ziel: Die Sandstrände von Hiekkakärsät kurz vor Kalajoki. Angeblich sind es die nördlichsten von Finnland. In jedem Fall sind sie herrlich. Puderfeiner weißer Sand. Habe erst ein bisschen in der Ostsee rumgeplanscht und mich dann auf die bleiche Haut (mal abgesehen von Armen, Beinen und Gesicht) gelegt. Anschließend duschen und mal wieder kochen. Naja, kochen. Halt Wasser heiß machen und das Tüttenfutter reinstreuen. Schmeckt halbwegs und macht satt. Aber so richtig zu kochen, mit frischen Zutaten und mehr als nur einem 0,75-Liter-Topf, das geht mir momentan am meisten ab.

Morgen erreiche ich hoffentlich Oulu. Sind noch gut 140 km, sollte aber machbar sein. Ursprünglich wollte ich auf dem hiesigen 4-Sterne-Camingplatz einen Ruhetag einlegen. Doch bei allem Komfort ist mir das hier eine Nummer zu touristisch. Dann lieber in einem Hostel mit andern Backpackern auf ein Bier zusammensitzen. Außerdem muss das Netbook mal wieder geladen und die Website aktualisiert werden. WiFi gäbe es hier zwar, aber das saugt den Akku in Nullkommanix leer.

Mit Oulu ist dann auch der Radreiseführer am Ende. Weiter geht es über Kemi und Rovaniemi in den wirklich hohen Norden. Eines ist klar: Der anstrengende Teil liegt noch vor mir. Mal sehen, ob dann auch andere Radler auftauchen. Bisher habe ich nur in Estland und an der finnischen Südküste mehrere getroffen.


Distanz: 100 km

Durchschnittsgeschwindigkeit: 19,4 km/h


 

35. Tag, Donnerstag, 7. Juli - bis Oulu

Wieder eine erlebnisreiche Campingplatznacht und ein erfüllter Straßentag. Die Nacht widme ich ganz meinen speziellen Freunden: Möwen und sendungsbewussten Touristen. Erstere rotteten sich gegen halb drei zu einem Schwarm zusammen und kreisten kreischend über dem Zeltplatz. Sobald ich wach war, zogen sie weiter. Aber nur, um eine Viertelstunde später von einem professionellen Fußballfan (meine Vermutung) abgelöst zu werden. Der grölte in einiger Entfernung sein „Olä, oläoläolää“. Halt die finnische Variante des auch bei uns beliebten Schlachtgesangs. Von der anderen Seite des Zeltplatzes antwortete umgehend ein Gleichgesinnter. Während ich versuchte, wieder einzuschlafen, mäanderten die beiden Sänger aufeinander zu, verfehlten sich und grölten um so ambitionierter weiter. Nach mehreren Versuchen gelang es mir, das Handtuch so um meinen Kopf zu wickeln, dass die Schall- und Lichtzufuhr deutlich, die für Luft aber nur marginal reduziert wurde. Es folgte ein unruhiger Halbtraum, der sich hauptsächlich um bulliges, gesichtsloses Sicherheitspersonal drehte, das jede Abweichung von der Campingsplatzordnung mit dem Taser ahndete. Ich fürchte, ich muss mal ein ernstes Wort mit meinem Unterbewusstsein reden. Diese faschistoiden Gewalttendenzen – die passen so gar nicht zu ihm. So kenn' ich es gar nicht.

Egal, Ergebnis des Intermezzos war, dass ich nicht wie gewollt um sieben, sondern erst um neun erwachte und erst gegen zehn auf der Piste war. Laut Karte lagen vor mir deutlich über 100 km ausschließlich auf der Hauptstraße. Ganz so schlimm sollte es zum Glück nicht werden. Während der ersten 25 km bis Pyhäjoki war der Verkehr angenehm zurückhaltend. Bis Raahe (wieder ca. 25 km) gab es zahlreiche Radwege.

Ach ja, muss auch mal gesagt werden. Bei meinem ganzen Genöle über Verkehr, Wetter, Hügel, Camping-Touris etc. mag leicht der Eindruck entstehen, ich sei hier in der Radlerhölle gelandet. Nichts könnte falscher sein. Finnland ist ein fantastisches Fahrradland. Im Umkreis jedes größeren Ortes sind neben allen ein- und ausfallenden Straßen separate, geteerte Fuß- und Radwege angelegt. Oft führen diese über viele Kilometer bis zum nächsten Ort. In den Ortschaften sind die allermeisten Trottoirs breit genug für Fußgänger und Radfahrer ausgelegt. Die gegenseitige Rücksichtnahme ist bewundernswert. Auch an den Zebrastreifen: Wenn auch nur die entfernte Möglichkeit besteht, dass ein Passant oder Radler rüber will, halten die Fahrzeuge. Eh Manuela, das wäre doch Dein Land. ;-) Also alles in allem: Suomi: douze points!

Nach einer kurzen Mittagspause in Raahe folgte dann der längst erwartete üble Teil mit viel Verkehr und Sonne. Der lag aber dank flottem Tempo zum Glück rasch hinter mir. Unangenehmer wurde die nächsten 20 km bis Liminka. Normalerweise gibt es auf Hauptstraßen einen 40 bis 150 cm breiten Seitenstreifen für Radler und langsame Mofas. Außerdem haben sie hier eine sehr effiziente Randmarkierung. Anstatt aufwändig Plastikbuckel auf die Fahrbahn zu schrauben, wird einfach in regelmäßigen Abständen die Asphaltdecke angefräst.

Unangenehm wird es nur, wenn sich der Seitenstreifen auf 30 cm verjüngt und die Fräsungen innerhalb dieses Bereichs liegen. Teilweise bleibt dann nur noch eine 10 cm breite Fahrspur. Links Fräsungen, rechts Schotter und Straßengraben. Wenn einen dann noch ein LKW mit Anhänger samt Wirbelschleppe überholt, gerät man sauber ins Trudeln. Solche Strecken fordern viel Konzentration und machen wenig Spaß. Wahrscheinlich trug genau das zu einem guten 24er-Schnitt bei.

 

Nach Liminka wurde es dann wieder paradiesisch. Kilometerlange Radwege, kaum ein Mensch unterwegs und leichter Rückenwind. Ich weiß nicht, ob es an der Landschaft oder an der Musik (Band of Holy Joy und Pink Turns Blue (Moon)) lag – jedenfalls musste unwillkürlich ans Sommerlager in Ungarn und Torsten denken. In Ermangelung eines Barack Palinka stieß ich mit der Wasserflasche auf ihn an. Torsten, auf Dich – wo auch immer Du sein magst. Und als ich eh schon in Nostalgie schwelgte, kam auch noch der passende Wegweiser vorbei. Exakt zwanzig Jahre später und rund 300 km zu weit nordwestlich. Gemessen an absoluten Koordinaten ist das fast eine Punktlandung. Daher: Cheers an alle, die dabei waren. War 'ne großartige Zeit. An alle anderen: Sorry für diese Insider-Ansagen.


 

 

Gefühlt kam Oulu dann fast zu früh. Mit der richtigen Mucke hätte ich wahrscheinlich noch stundenlang weiterfahren können. Andererseits: Nachdem ich erst einmal Quartier bezogen und die nähere Umgebung begutachtet hatte, stand fest: Hier gefällt es mir richtig gut. Da bleibe ich doch gerne einen Tag länger. Zumal städtemäßig abgesehen von Rovaniemi jetzt vorerst Schluss ist. Zeit für große Wäsche, kleine Besorgungen und ein bisschen Hängenlassen. Alles in allem: ein absolut phantastischer Tag.


Distanz: 149 km

Durchschnittsgeschwindigkeit: 21,0 km/h

 

 

36. Tag, Freitag, 8. Juli – in Oulu

Heute gibt es nichts zu berichten. Bin den ganzen Tag faul rumgelegen, habe Hörbücher gehört und einen kurzen Bummel durch Oulu unternommen. Die große Wäsche ist ausgefallen, da beide Waschmaschinen auf Tage ausgebucht sind.


 

37. Tag, Samstag, 9. Juli – bis Kemi

Bin schon um 7 Uhr aufgestanden, da mich die Sonne aus dem Zelt trieb. Kam entsprechend früh los und hatte noch vor 11 Uhr die ersten 70 km runter. Es war ziemlich warm, aber das Tempo stimmte. Nach einer kurzen Pause ging es weiter. Auch wenn ich das hohe Tempo halten konnte, zogen sich die letzten 40 km etwas hin. Dennoch kam ich bereits um kurz nach drei am Campingplatz an. Ich war nicht böse darüber, da die Sonne mittlerweile ordentlich herunterbrannte. Sie verzog sich erst, nachdem ich ein paar T-Shirts gewaschen hatte und zum Trocknen aufhing. Nun drohen Regenwolken am Horizont und die Luftfeuchtigkeit ist so hoch, dass nichts trocknen will. Kommt mir irgendwie bekannt vor.

Vorhin kam ich noch mit zwei Italienern (Vater und Sohn) ins Gespräch, die mit ihren Motorrädern auch zum Nordkap. Konnte ihnen dank guter Karten und dem detaillierten Nordskandinavienführer ein paar Routentipps geben und sogar sagen, wo sie tanken können. Nördlich von Rovaniemi sind die Tankstellen deutlich dünner gesät.


 Distanz: 114 km

Durchschnittsgeschwindigkeit: 21,8 km/h


 

38. Tag, Sonntag, 10. Juli – bis Rovaniemi

Die Sonnenaufgänge werden immer extremer. Heute hat mich die Sonne gegen halb drei geweckt, als sie durch die Lüftungsschlitze in Zelt schien. Aber ich passe mich allmählich an und schlief gleich wieder ein. Bin trotzdem früh aufgestanden und habe angesichts drohender Regenwolken schnell das Zelt abgebaut. Der große Regen blieb aus, aber während der ersten 90 Minuten der Fahrt nieselte es konstant. Bei 25 °C Lufttemperatur auch nicht unbedingt das, was man in Lappland erwartet. Nachmittags riss der Himmel auf und es wurde wieder sehr warm. Da sich dazu aber ein kräftiger Südwind gesellte, will ich mich nicht beschweren.

Bin über eine Nebenroute besser vorangekommen als zunächst gedacht. Gestern abend zerrte ich mir einen Muskel oder eine Sehne in der Lende. Gehen und Bücken ist unangenehm schmerzhaft. Sitzen (sprich Radfahren) klappt aber zum Glück. Nur muss ich nun alle Hügel durchstrampeln, da Schieben überhaupt keinen Spaß mehr macht. Aber auch das hat sein Gutes. Bin ich doch so endlich gezwungen, Steigungen taktisch anzugehen anstatt nach der Hälfte hinzuschmeißen und abzusteigen.

Die Landschaft ändert sich allmählich. Es wird wieder hügeliger. Die Bäume werden kleiner und die weiten Flächen teilweise etwas lichter. Meine ersten Rentiere habe ich heute auch gesehen. Mücken dank des starken Windes keine. Insgesamt ein schöner ruhiger Tag allein auf weiter Flur.

Wenn man böse sein wollte, könnte man auch sagen, dass Lappland sonntags an Mad Max erinnert: Endlose, scheinbar in nichts führende Straßen, keine Menschenseele unterwegs. Nur an den Tankstellen treffen sich ein paar Freaks. Zum Beispiel dieser Typ mit dem Gel-Iro. Hat sich seine Haare rot gefärbt, einen flachen Irokesenschnitt zugelegt und schließlich das Ganze mit Haargel eingekleistert und nach hinten gekämmt. So eine Art guttenbergscher Punk-Plagiator. Sieht nicht gerade vorteilhaft aus - aber was für ein Provo-Potential :-)


Distanz: 126 km

Durchschnittsgeschwindigkeit: 21 km/h

 

 

39. Tag, Montag, 11. Juli - bis Kittilä

So müssen Tage im Fahrradhimmel aussehen. Spitzenwetter (22 °C, Sonne und Wolken, gleichmäßiger Rückenwind), Straßen mit gutem Belag und größtenteils eine Verkehrsdichte, die gegen Null geht. Auf den ersten 50 Kilometer gab es schon mal bis zu fünf Minuten Pause zwischen zwei Fahrzeugen. Später wurde es etwas „dichter“, aber nie so, dass ich von Verkehr sprechen würde. Ob es daran oder an dem erwähnten leichten Rückenwind lag, weiß ich nicht. Streckenweise gelang es mir aber, über etliche Kilometer mit 30 und mehr Stundenkilometer dahinzujagen. Macht irre Spaß. Ganz nebenbei muss ich dabei auch den Polarkreis überfahren haben. Hab aber nix gespürt. Vielleicht ist das auch nur dort ein besonderes Erlebnis, wo eine weiße Linie auf die Straße gemalt ist und eine Frittenbude überteuerte Imbisse verkauft.

Wie auch immer. Bin so gut vorangekommen, dass ich die erste Pause immer weiter rausgeschoben habe. Ungewöhnlich für mich :-). Insgesamt machte ich zwei halbstündige Pausen nach jeweils rund 50 km und drittelte die Strecke somit.

Sehr nett war auch der erste nähere Rentierkontakt. Ein jüngeres Exemplar stand auf der Straße und hielt den Verkehr auf. Zwar wich es immer wieder nervös von einer Hälfte auf die andere, von der warmen, mückenfreien Asphaltzone wollte es aber nicht weichen. Mittlerweile hatte sich schon ein Stau von drei (!) Fahrzeugen gebildet. Deren Fahrer sahen die Sache aber nicht halb so belustigt wie ich und versuchten das arme Tier mit Hupen noch nervöser zu machen. Dass ich dann auch noch während des langsamen Dahinrollens meinen Foto rausholte, brachte mir einige verächtliche Blicke und ein paar nette Bilder ein.

Trotz der recht beachtlichen Strecke, ging der Tag schnell vorbei. Leider war es in Kittilä nichts mit dem erhofften Camingplatz. Also mal wieder eine Pension. Über Kittilä gibt es nicht viel zu sagen. Nicht ganz 6000 Einwohner, die sich über etliche Kilometer entlang der Straße angesiedelt haben. Trotzdem eine Art Großstadt hier oben. Den Dorfhelden habe ich auch schon kennengelernt. Mir zu Ehren (vermute ich) ist er mit seiner Kinder-Kawasaki vorgefahren und zeigte mir einen 1-A-Wheelie. Sowohl die Straße runter als auch rauf. Und sicherheitshalber das Ganze gleich dreimal. Ich war schwer beeindruckt und wollte ihm schon eine kleine Milch ausgeben. Leider waren inzwischen neue Fremde eingetroffen, denen er sein Können noch nicht präsentiert hatte. Aber mein Angebot steht. Gerne auch mit einem Pfund Zucker für die Kawa.


Distanz: 156 km

Durchschnittsgeschwindigkeit: 23,3 km/h (yeah!)

 
 

 

40. Tag, Dienstag, 12. Juli – bis hinter Repojoki


Das Wetter hat umgeschlagen und es ist deutlich kühler geworden. Vielleicht noch 15 °C. Tiefhängende Wolken drohten den ganzen Tag mit Regen, hielten sich aber zum Glück zurück. Vor mir lag die Straße 955, die nach über 200 km in Inari endet. Sie gilt zu Recht als eine der einsamsten Straßen Finnlands. Zwischen Kittilä und Inari gibt es kaum etwas anderes als Sumpf, Rentiere und Mücken. Ursprünglich hatte ich daher den Marathondurchbruch vor. Nach den ersten 50 km war allerdings klar, dass das nichts wird. Die Steigungen nehmen heftig zu und der Wind hat auf Nord gedreht. Zeitweise ging es selbst auf der Geraden bestenfalls mit 12 km/h voran. Trotz der Anstrengungen eine sehr schöne Strecke. Alle Stunde oder so mal ein Auto, sonst nichts als Landschaft. In Pokka, einem winzigen Nest mit ein paar Häusern, trank ich noch einen Kaffee und aß eine Quiche. Sehr netter Laden übrigens. Hat was von diesen alten irischen Pubs mitten im Nirgendwo mit der ultimativen Schanklizenz. Pokka kann zudem mit dem finnischen Kälterekord aufwarten. 1999 wurden hier -51,5 °C gemessen. Verdammt, wo war ich da?

Nach dem Imbiss ging es weiter. Theoretisch eigentlich die ganze Nacht. Hell genug bleibt es ja. Als ich es mit MP3-Doping probierte, war ich mir bei „Never let me down again“ von Depeche Mode sogar fast sicher, sofort bis zum Nordkap durchfahren zu können. Die Euphorie hat ungefähr 20 km gehalten, dann waren die Beine endgültig müde. Da hier nirgends eine Unterkunft oder ein Campingplatz zu erwarten war, hatte ich während des Nachmittags immer wieder nach geeigneten Plätzen Ausschau gehalten und auch einige gefunden. Den Jackpot zog ich allerdings, als plötzlich eine Informationstafel auf eine alte samische Rentiersammelstelle hinwies – sowie auf zwei Plätze mit Feuerstellen. Es war etwas mühsam, mit dem schweren Rad über die Bohlenwege dorthin zu balancieren, aber es hat sich gelohnt. Sehr schöner Platz mit einer Hütte voller Holz, Tisch und Bänken und einer Feuerstelle. Ursprünglich wollte ich mich früh schlafen legen. Das Zelt stand gerade, der mit Flusswasser aufgebrühte Tee dampfte neben mir, als es zu nieseln begann. Ach ja, und ein „paar“ Mücken gab's auch noch. Um den Abend etwas gemütlicher zu gestalten, brannte kurz darauf ein feines Lagerfeuer. Später folgte ein zweiter Kessel Tee, und ich spielte den ringsum weidenden Rentieren was mit der Tin Whistle vor. Die Mückenwaren mitdem Feuer übrigens Geschichte. Ganz eindeutig der schönste Abend der bisherigen Reise.

Außer Rentieren (die übrigens die ganze nach einem „Bert“ oder „Burt“ zu rufen scheinen) gab es noch einen weitern Gast. Ein kleines schwarz-weißes Nagetier von der Größe eines fetten Hamsters kam kurz zum Feuer angewieselt und begutachtete es interessiert. Als ich mich bewegte, war es aber sofort wieder weg. Habe am nächsten Tag immer wieder ähnliche Geschöpfe entlang der Straße gesehen. Lemminge vielleicht?


 

Distanz: 128 km

Durchschnittsgeschwindigkeit: 16,6 km/h

 

41. Tag, Mittwoch, 13. Juli - bis Inari

Es hat die Nacht über durchgeregnet. Heute morgen war es entsprechend noch ein bisschen kälter. Zum Frühstück gab es Shrimp-Nudeln von YumYum. Hatte ich in Oulu in einem Supermarkt entdeckt und konnte nicht widerstehen. Mit dem Aufbruch ließ ich mir etwas Zeit, da es bis Inari nur noch 70 km waren. Als ich nach eineinhalb Stunden gerade mal 20 km hinter mir hatte und schon ziemlich geschafft war, sah ich schwarz für den heutigen Tag. Alles hatte zugenommen: der Wind, die Kälte, die Steigungen … Plötzlich fühlte sich die Einsamkeit nicht mehr ganz so nett an. Nachdem ich mich aber ordentlich eingepackt habe (Handschuhe, Kapuze zu, zusätzliches Hemd) ging es und auch die Berge wurden etwas erträglicher. Die letzten 30 km liefen dann wieder viel besser, auch wenn die Geschwindigkeit recht bescheiden blieb.

In Inari traf ich dann endlich mal wieder einen Reiseradler. Er kam von Kirkenes und versucht nun nach Schweden zu kommen. Nach dem üblichen Touren- und Erfahrungsaustausch hatte er mich soweit, dass ich auch über Kirkenes statt über Karasjok fahre. Landschaftlich ist so mehr geboten. Außerdem kann ich dann Kjøllefjord mit der Fähre nach Honningsvag übersetzen und spare mir diesen ätzenden Tunnel. Und: Mit einem Abstecher nach Gamvik bin ich sogar am wahren Nordkap gewesen, das zwar nicht ganz so weit nördlich, dafür aber auf dem Festland liegt.


Distanz: 76 km

Durchschnittsgeschwindigkeit: 16,8 km/h

 

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